Kälte Peter Hellinger
Zwei Uhr Morgens verkündet der Glockenschlag der Schlosskirche. Unter meiner Haut macht sich die Kälte des jungen Tages breit — meine vertraute Freundin.
Es riecht nach frischem Regen, der in großen Pfützen den Asphalt bedeckt, hier und da das Licht einer Lampe reflektierend. Ich geh die Straßen entlang, betrachte die Leuchtreklame der Bars, bleib vor einer stehen. Aus der geöffneten Tür dringt der treibende Bass eines Blues, singt von Einsamkeit und frisst sich in meine Seele.
Die Luft ist stickig, Zigarettenrauch leuchtet blau unter den tief hängenden Lampen, als ich den roten Plüschvorhang am Eingang beiseiteschiebe. Ich schneide mir einen Weg durch den Mief, und schiebe mich auf einen Hocker am Tresen. Die dralle Kellnerin hinter der Bar lächelt müde, ohne die Zigarette aus dem Mundwinkel zu nehmen. Ich bestelle einen Whiskey.
Der Alkohol brennt sich einen Weg in meinen Magen und streitet sich dort mit der Kälte. Ich drehe das Glas in der Hand, betrachte die Lichtreflexe in Bernstein und Eis, und leere den Rest in einem Zug. Den fragenden Blick der Kellnerin beantworte ich mit einem Nicken, und schiebe ihr das Glas über den schmutzigen Tresen zu.
Hinten im Lokal sind Lichter angegangen, irgendwelche Typen johlen, während sich eine junge Frau auf der Bühne zur Musik auszieht. Die Illusion der Unschuld gelingt ihr ganz gut, aber mich kann sie nicht täuschen. Sex sells — doch was sie verkauft, will ich nicht haben. Ich dreh mich wieder zur Bar und betrachte die Auswahl der Schnäpse im Regal. Der Versuch, die Kälte zu ertränken, ist schon so oft gescheitert, das ich aufgehört habe mitzuzählen.
Eine Hand berührt mich am Arm, ich drehe mich um und blicke in ein stark geschminktes Frauengesicht. Ob ich ihr etwas ausgeben würde, einen Piccolo. Klar, warum nicht. Sieht zieht mich hinüber zu einem der Tische in der Ecke, und ich lasse es geschehen. Das Teelicht in der zerknitterten Papiertüte verbreitet verzweifelte Romantik auf dem Tischchen.
Die Frau lacht, nennt mich Schatz und legt ihre Hand auf mein Bein. Ohne Schminke wäre sie vielleicht sogar hübsch. Sie erzählt von ihren Träumen, und das sie sich eines Tages aufmacht und sie wahr werden lässt. Sobald der Prinz kommt, den Drachen erschlägt und sie mit einem Kuss erlöst. Der Rosenkranz der Gescheiterten.
Ich spule meine übliche Story ab, knapp an der Wahrheit vorbei, wie immer. Warum ich lüge weiß ich nicht. Ich tu es schon so lange, das es eine Gewohnheit geworden ist. Ich weiß nicht einmal mehr ob das meine Geschichte ist, oder etwas, das ich vor langer Zeit gelesen habe.
Sie drückt sich an mich heran, und ihr viel zu süßes Parfüm steigt in meine Nase. Die Kälte faucht und schlägt ihre Klauen in meine Eingeweide, doch der Whiskey hat sich mit meiner Sehnsucht verbrüdert, und ich spüre die Krallen kaum. Die Frau flüstert etwas von ‚Zimmer für eine Stunde‘, und ich erliege dem Versprechen ihrer Wärme.
Ich folge ihr durch einen Seitenausgang, eine schmale Treppe hoch. Desinfektionsmittel und Fichtennadelspray überbieten den Moder der Wände. Das Zimmer ist wie aus einem schlechten Hollywoodfilm: Rotes Licht, ein Stuhl, ein Tisch, ein Bett. Die Monroe an der Wand, eine billige Warhol Kopie. Der Spruch Carpe diem, gestickt auf ein Kissen. Neben der Tür ein Waschbecken.
Zuviel von allem.
Mir wird schlecht, ich schnappe nach Luft, renne aus dem Zimmer. Die Frau schreit.
Das höhnische Lachen der Kälte dröhnt in meinen Ohren, als ich auf der Straße stehe, und gierig die Nachtluft in mich einsauge. Ich lehne die Stirn an die Schaufensterscheibe eines Ladens, und spüre wie die gläserne Kühle in mein Gehirn sickert.
Im Schaufenster liegen Bücher, eines zeigt ein Bild auf dem Umschlag: Ein Mann, feiner Anzug, Bowler auf dem Kopf. Als Gesicht ein großer, grüner Apfel. Mein Spiegelbild in der Scheibe sieht aus wie er. Kein Gesicht, kein Gefühl, kein Leben.
4 Uhr morgens verkündet der Glockenschlag der Schlosskirche. Während ich nach Hause gehe, macht es sich die Kälte in mir bequem — meine vertraute Freundin.