Geschichten, mal ernst, mal heiter

Blattmusikanten Peter Hellinger

Der Kaktus stand auf dem Fensterbrett. "Ich habe es satt, hier rumzustehen und mit Wasser begossen zu werden!" sagte er eines Tages. Sachte zog er die Wurzeln aus dem Blumentopf, klopfte die Reste von Erde ab und verließ das Haus. Als er ein wenig die Straße entlang gegangen war, traf er auf eine Pelargonie, die gerade aus einem blauen Müllsack kletterte.

„Was ist dir denn geschehen?“ fragte er, während sich die Pelargonie etwas Kaffeesatz aus den Blüten schüttelte. „Ach!“ seufzte die, „Mein Besitzer fand mich nicht mehr fein genug für den Balkon. Also hat er mich einfach herausgerissen und in diesen Müllsack gestopft. Jetzt weiß ich nicht, wo ich hin soll!“ „Ich gehe die Straße entlang, bis ich in die große Stadt komme.“ antwortete der Kaktus „Für einen, wie mich, gibt, es da sicher etwas zu tun. Magst du nicht mitkommen? Wenn es Arbeit für mich gibt, dann bestimmt auch für eine wie dich. Besser als hier ist es dort allemal.“

Gesagt – getan, und schon marschierten die beiden auf ihren Wurzeln gemeinsam die Straße hinab, immer in Richtung der großen Stadt. Gegen Mittag brannte die Sonne heiß vom Himmel und die Pelargonie lies arg die Blätter hängen. Dem Kaktus machte das natürlich nichts aus, er war ja Hitze gewohnt. „Schau!“ rief er „Da vorne, da ist ein Brunnen! Da können wir uns erfrischen.“ Als sie am Brunnen ankamen, stand dort eine finster dreinblickende Monstera. „Was wollt ihr denn hier?“ fauchte sie die beiden an, und wedelte mit ihren großen Blättern. „Das ist mein Brunnen, ich hab ihn zuerst gefunden!“ „Ach bitte!“ jammerte da die Pelargonie, „nur ein Schlückchen Wasser und ein paar Minuten Rast!“ Als die Monstera den bedauernswerten Zustand der Pelargonie sah, gab sie ihrem Herzen einen Stoß. „Na, gut! Für fünf Minuten geht es schon.“

Während die Pelargonie ihre Wurzeln in den Brunnen hing und ordentlich trank, blickte der Kaktus die Monstera neugierig an. „Was hat dich denn von zuhause vertrieben?“ fragte er. „Ach, wisst ihr“ seufzte die Monstera, „den ganzen Tag stand ich immer in der dunklen Ecke weit weg von jedem Fenster. Mein Besitzer hat sich gar nicht um mich gekümmert, und meine Blätter hatten schon jeden Glanz verloren.“

„Na, dann komm doch einfach mit uns in die große Stadt!“ rief der Kaktus „Wo es Arbeit für einen Kaktus und eine Pelargonie gibt, wird sich wohl auch etwas für eine wie dich finden. Schlimmer als hier kann es jedenfalls nicht sein.“ „Dann machen wir es so!“ sagte die Monstera und reichte dem Kaktus und der Pelargonie feierlich ihr größtes Blatt.

Nachdem das Trio sich noch etwas ausgeruht und erfrischt hatte, machte es sich weiter auf den Weg die Straße hinab in die große Stadt. Gegen Abend kamen sie an einem alten Bauernhaus vorbei. Aus den Fenstern drang spärliches Licht, und man sah, wie sich Schatten darin bewegten. Leise schlichen die drei Gefährten an das Fenster heran. „Was siehst du?“, flüsterte der Kaktus und die Monstera schüttelte die Blätter, während sie über das Sims in die Stube spähte. „Da ist eine ganze Bande Ficus und die sitzen um einen großen Sack Blumendünger herum und lachen und feiern.“ „Ha!“ sagte der Kaktus, „das wäre doch was für uns! Wie ich diese Ficus kenne, haben sie den Dünger bestimmt gestohlen!“ Die Pelargonie nickte eifrig: „Ja, ich hab davon gehört, die anderen Balkonpflanzen sprachen von nichts anderem! Eine Bande Ficus ist in einen Baumarkt gestürmt und hat mehrere Säcke Dünger geraubt.“ „Freunde,“ sagte der Kaktus, „was haltet ihr davon, wenn wir uns diese Räuber vorknöpfen? Ich hab da auch schon eine Idee!“ Leise beratschlagten die Drei, was sie tun sollten.

Die Monstera stellte sich vor das Sims, sodass sie gut in den Raum sehen konnte. Dann kletterten die Pelargonie und der Kaktus auf ihren großen Blättern nach oben. Als die Drei schließlich aufeinander standen, zählte der Kaktus von drei auf eins und die drei Gefährten schrien, fuchtelten mir allen Blättern und klopften wie wild ans Fenster, das schließlich brach und die Drei stürzten in die Stube hinein, dass die Scherben klirrten. Die Ficus fuhren bei dem entsetzlichen Lärm in die Höhe, meinten, ein Gespenst käme herein und flohen in größter Furcht aus dem Haus.

Das Trio aber machte es sich am Düngersack bequem, die Pelargonie entdeckte einen Eimer mit Wasser und so hatten die Gefährten einen wunderbaren Abend und lachten noch lange über die Ficus und wie sie sie vertrieben hatten. Schließlich löschten sie das Licht und legten sich schlafen, weil sie müde waren von ihrem langen Weg.

Als Mitternacht vorbei war und die Ficus sahen, dass kein Licht mehr im Haus brannte, und auch sonst alles ruhig schien, sprach der Größte von ihnen: „Wir hätten uns doch nicht so ins Bockshorn jagen lassen sollen! Einer von uns sollte zurückgehen und nachsehen, was los ist!" Das Los fiel auf den Kleinsten der Räuber. Leise schlich er zurück, blickte durch das Fenster, und als er nichts sah, kletterte er vorsichtig hinein. Gerade als er sich auf den Boden hinablassen wollte, berührte er den Kaktus, dessen Stacheln ihn heftig pikten. „Au!“ heulte er auf, und davon wurden die Freunde wach. „Diebsgesindel!“ schrie die Pelargonie, und packte die nächstbeste Wurzel, die sie zu fassen bekam. „Hab ich dich Bürschchen!“ knurrte die Monstera und packte den Ficus am Kragen, und der Kaktus bohrte seine Stacheln tief in seinen Stamm. Der Eindringling heulte auf, riss sich los und rannte aus dem Haus, als ob sämtliche Gärtner der Welt mit ihren Heckenscheren hinter ihm her wären.

Bei seinen Räuberfreunden angekommen berichtete er: „Da sind wahre Teufel im Haus, sie haben mich beschimpft und am Hals gepackt und mich mit ihren fürchterlichen Piken bearbeitet! Da geh ich nie wieder hin!“ Da ließen die anderen Ficus ihre Blätter hängen und trollten sich ihrer Wege.

Den drei Freunden aber, Kaktus, Pelargonie und Monstera gefiel es so gut in dem alten Bauernhaus an der Straße in die große Stadt, dass sie beschlossen, dort zu bleiben und gemeinsam dort zu leben. Und wenn sie nicht verwelkt sind, dann blühen sie noch heute.

Zu lesen in

Wenn das die Grimms wüssten
Peter Hellinger (Hrsg.)