Geschichten, mal ernst, mal heiter

Ein netter älterer Herr Peter Hellinger

Man sah es ihm nicht an. Nicht, dass man so etwas irgend jemand angesehen hätte. Aber wenn – dann ihm ganz bestimmt nicht. Er war einfach nur ein netter älterer Herr um die 60, mit grauem, kurz geschnittenem Haar, wachen blauen Augen und vielleicht etwas zu buschigen Augenbrauen in einem Gesicht, das weder besonders faltig noch besonders glatt wirkte.

Überhaupt war an ihm nichts besonders auffällig, weder seine schmale Nase noch der breite, offenbar gern lachende Mund. Seine Kleidung ließ auf ein gewisses finanzielles Niveau schließen, ganz wie es zu einem wohlsituierten Geschäftsmann aus Mailand, Zürich oder Stockholm passen würde. Zur schwarzen Bundfaltenhose trug er schwarze italienische Slipper, ein schwarzes, ordentlich gebügeltes Hemd, keine Krawatte, nur den obersten Knopf offen. Darüber ein teures graues, leicht gemustertes Sakko, das man bestimmt in jeder halbwegs edlen Einkaufsmeile in Europa kaufen konnte. Auch der Pilotenkoffer, den er an einem Griff hinter sich herzog, sah nicht billig aus, einfach nur angemessen. Ein Detail störte dann aber doch, etwas was man an einem Geschäftsmann sicher nicht erwartet hätte: Auf dem Kopf trug er ein Baseballcap mit einem aufgesticktem roten Totenkopf.

Er stand auf dem Bahnsteig gegenüber von mir, dort wo in ein paar Minuten der Nacht-express nach Hamburg einrollen sollte. Vielleicht war es das Baseballcap, dass meinen Blick auf ihn lenkte, oder eine Geste, oder einfach meine Langeweile und dass er einer der wenigen Reisenden waren, die zu dieser Nachtzeit überhaupt noch auf einen Zug warteten. Ich verfolgte, wie er auf und abging und die Menschen musterte, an denen er vorüberging. Er machte auf mich den Eindruck, als ob er jemand suchen würde, aber nicht wollte, dass der Gesuchte dies bemerkte. Langsam schritt er den Bahnsteig entlang und unbewusst folgte ich ihm auf meinem, blieb immer auf seiner Höhe und gab vor ihn nicht zu bemerken, wenn er umkehrte und er dabei in meine Richtung blickte.

Betont lässig blieb ich am Kaffeeautomaten stehen, kramte nach Münzen in meiner Hosentasche, warf sie in den Automaten und drückte die Taste für Milchkaffee. Als ich nach dem gefüllten Becher griff, verbrühte ich mir die Finger und fluchte ungehalten. Vorsichtig nippte ich an dem heißen Gebräu, dass nur entfernte Ähnlichkeit mit einem Kaffee aufwies und spähte über den Rand des Bechers nach dem Baseballcap. Zu meiner Überraschung hatte er sein Auf- und Abgehen beendet und sich neben einen der Reisenden gesetzt, die auf den Nachtexpress warteten. Hatte er den Gesuchten ge-funden? Sein Banknachbar war dem Anschein nach ebenfalls ein Geschäftsmann, dunkelblauer Anzug, hellblaues Hemd und gelbe Krawatte. Ganz der dynamische Typ redete er unaufhörlich in sein Handy und strich sich immer wieder aufgeregt über den kahlrasierten Schädel.

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Peter Hellinger

Der Lautsprecher quäkte etwas von „Einfahrt auf Gleis 6“ und die Reisenden am Bahnsteig gegenüber standen auf, griffen nach ihrem Gepäck und traten an die Bahnsteigkante. Einige spähten den Lichtern des einfahrenden Zuges entgegen. Auch der Kahlkopf und war aufgestanden und ganz dicht an den Rand des Bahnsteigs getreten. Hinter ihm konnte ich den Mann mit der Baseballmütze sehen. Er schaute dem Kahlkopf über die Schulter, blickte mir direkt ins Gesicht und für einen Moment schienen seine Augen aufzuleuchten, als er meinen Blick erwiderte. Der Zug fuhr heran, Staub und Papier wirbelte auf und Bremsen quietschten. Plötzlich kam mir ein furchtbarer Verdacht: Ich begann zu schreien und zu winken, doch nur die Baseballmütze schien mich zu sehen, und der einfahrende Zug überdeckte mit dem quietschen seiner Bremsen jeden Laut von mir. Der Kahlkopf hatte nur Augen für die Lok des Zuges, die nun fast auf gleicher Höhe mit ihm war. Wie in Zeitlupe schob sich die Lok heran, die Baseballmütze hob die Hand, ich schrie, die Hand fuhr herunter und der Kahlkopf stürzte unmittelbar vor der Lok aufs Gleis. Bremsen kreischten, Menschen schrien und es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis der Zug endlich stand.

Entsetzt starrte ich auf das was zwischen den Rädern des Zugs lag und eben noch ein lebendiger Mensch gewesen war. Dann schnellte ich herum, stürzte die Treppe zur Unterführung hinab und rannte zum Gleis des Nachtexpress. Nur ich schien bemerkt zu haben, was wirklich vorgefallen war, und ich wollte diesen Mistkerl nicht davon kommen lassen. Als ich am Aufgang zum Gleis ankam, stand der Mann bereits am Fuß der Treppe, und blickte mir lächelnd entgegen. Seine Augen blitzen vergnügt, als er seine Baseballmütze abnahm und sich vor mir verbeugte wie ein Schauspieler beim Schlussapplaus. Erschrocken blieb ich stehen und starrte ihn an. Er zuckte mit den Schultern, setzte das Baseballcap wieder auf, drehte sich um und ging langsam Richtung Ausgang, seinen Pilotenkoffer am Griff hinter sich herziehend, wie ein ganz normaler Reisender. Ich lehnte mich an die Wand der Unterführung, rutschte langsam zu Boden und begann wie irre zu kichern.

Später sagte man mir, ich hätte nur Unfug von mir gegeben. Ich wäre überarbeitet gewesen, und der Schock des Unfalls hätte mich Dinge sehen lassen, die ich mir nur eingebildet hätte. Aber ich weiß es besser. Ich habe sie gesehen. Als er seine Mütze abnahm, hab ich sie gesehen, die zwei Hörner auf seinem Kopf …