Geschichten, mal ernst, mal heiter

Abschreiben Gabriele Stegmeier

Mein erster Gedanke zu „abschreiben“ war Schule. Nichts außergewöhnliches also, denn das assoziieren sicher viele Mitmenschen. Der zweite Gedanke nannte sich „zu Guttenberg“. Das war schon netter, aber zu ausgelatscht. Eine Geschichte darüber zu schreiben wie unser Aushängeverteidigungsminister noch log, obwohl die Fakten bei „Fakten, Fakten, wir brauchen Fakten-Focus“ schon klar auf dem Tisch lagen, hat auf mich zwar einen gewissen Reiz ausgeübt, dennoch haben das inzwischen bereits so viele getan. Ich würde also recherchieren, was schon alles geschrieben steht und dann, ja, dann würde ich vermutlich abschreiben.

Nun ist das so eine Sache mit dem Abschreiben. Denn abschreiben ist ja nicht gleich abschreiben. Nehmen Sie zum Beispiel einen Liebesroman. Julia, Bianca, Romana, und wie sie alle heißen, diese Fließbandnovellen. Die Geschichte ist immer dieselbe. Frau verliebt sich in Mann oder umgekehrt. Die böse Halbschwester oder andere Intriganten versuchen, das zarte Liebesglück zu zerstören, was aber nur fast gelingt. Die Story gipfelt in einem fulminanten Happy End, das alle glücklich macht. Bis auf die böse Halbschwester natürlich, denn die geht ins Wasser oder ins Kloster.

Und nun frage ich Sie: Sind diese Geschichten etwa abgeschrieben? Merken Sie es? Die Antwort ist gar nicht so leicht. Ich schreibe ab, wenn ich einen Text wortwörtlich übernehme, aber tue ich das auch, wenn ich die Story mit meinen eigenen Wörtern ausformuliere?

Also in der Schule hatte ich trotz meiner Affinität zum Schreiben großes Pech damit. Wie immer nach den großen Ferien hieß das Aufsatzthema: Mein schönstes Urlaubserlebnis. Ich bin der Meinung, man sollte jeden Deutschlehrer, der dieses Thema wählt, in den vorzeitigen Ruhestand schicken, aber diese Gepflogenheit hat sich im Kultusministerium noch nicht durchgesetzt. Schließlich hängen auch noch Kreuze in den Klassenzimmern.

Jedenfalls saß ich ziemlich blöde rum. Diesen Sommer hatte es bei uns nämlich keinen Urlaub gegeben und ein schönes Erlebnis auch nicht. Erleben ist übrigens auch so ein lustiges Wort wie abschreiben. Ich meine leben, also das Verb leben, impliziert doch erleben. Denn dieses leben ist nichts Passives. Alles, was ich mache, löst eine Reaktion aus, die wiederum bei mir eine Gegenreaktion hervorruft. Das ist wie der Ping-Pong-Ball auf der Tischtennisplatte. Bis er runterfällt, aber ich schweife ab. Ich war bei erleben und abschreiben. Denn so wie leben erleben impliziert, beinhaltet auch schreiben abschreiben.

Denken Sie nur an Romeo und Julia. Die haben nun gar nichts mit den Bianca-Romanen gemeinsam, meinen Sie? Das würde ich so nicht sagen, denn es ist ja schließlich unser schon bekannter Plot. Das verliebte Paar darf sich nicht zu seiner Liebe bekennen und wird durch Missverständnisse in den Tod geschickt. Eine uralte Geschichte eben. Hat Shakespeare abgeschrieben?

Nun aber zurück zu meinem Schulaufsatz, zu dem mir das Erlebnis fehlte. In der Pause hatten die anderen Mädels von ihren Urlauben erzählt. Ich war ziemlich desinteressiert gewesen, da ich nichts beisteuern konnte außer ab und zu einem „ach wirklich?“ oder „das ist ja Waaaaaaaaaaaahnsinn!“. Trotzdem erinnerte ich mich an eine diffuse Geschichte mit einer Riesengiftqualle in der Nordsee. Nun hatte ich von Quallen genauso viel Ahnung wie von Ursa Minor, nämlich gar keine. Den Nordseestrand kannte ich nur aus der Jever Werbung, waren meine Eltern doch eingefleischte Mittelmeerfans. Dort war mir noch nie eine Qualle begegnet. Vielleicht gab es die ja nur in der kalten Nordsee.

Da fällt mir übrigens ein, abschreiben im Spanischen heißt copiar oder, wenn es in betrügerischer Absicht geschieht, plagiar, während schreiben escribir heißt. Das sind völlig verschiedene Wortstämme. Sie finden das nicht so interessant? Dann will ich Sie nicht weiter langweilen, sondern mit meiner Quallengeschichte fortfahren.

Ich beschrieb also, den aus der Werbung hinreichend bekannten Nordseestrand, und erfand einen kleinen nervigen Bruder, der, wenn er nicht gerade Gameboy spielte, Robby von Take That nachäffte, weil er wusste, dass ich ihn süß fand. Meine Eltern waren total cool, ich bekam immer, wenn ich wollte eine Cola oder ein Eis und durfte abends fast bis Mitternacht mit Jungs in die Disco. Dieser Teil gefiel mir besonders gut, nicht nur, weil mein kleiner Bruder stocksauer darüber war, dass er früh zu Bett musste. Deshalb geriet mir auch die Einleitung etwas lange. Sie erinnern sich? Einleitung, Hauptteil mit Höhepunkt, Schluss. Wobei der Schluss bei diesen öden Urlaubsgeschichten natürlich auch immer der gleiche war: So fand mein Abenteuer doch noch ein gutes Ende und ich freue mich schon auf den Urlaub nächstes Jahr. Wenn das nicht abgeschrieben ist!

Aber dagegen sagte unsere Lehrerin nie ein Sterbenswörtchen, und ich war nicht mutig genug, zu fragen, als der entscheidende Augenblick gekommen war. Aber dazu später. Ich näherte mich also meinem Höhepunkt, in dem ich ins eisige Wasser der Nordsee rannte.

„Also, wer hat jetzt von wem abgeschrieben?“ Claudia und ich standen vorne am Lehrerpult. Ich fühlte Hitze in meinen Kopf steigen. Wie ich das hasse! Immer werde ich knallrot, wenn es in die entscheidende Phase geht. Das sind die Momente, in denen ich mit etwas konfrontiert werde, das ich angestellt habe, oder wenn ich im Begriff bin zu lügen. Das vermasselt einem echt alles. Ich könnte nie professioneller Pokerspieler oder Politiker werden!

„Aber Gabriele“, sagte die Lehrerin auch schon. „Warum machst du denn so was?“ Der Blick, mit dem Claudia mich bedachte, war so eine Mischung aus Hohn und Mitleid. Ich schämte mich fürchterlich. Vielleicht kennen Sie das Gefühl, wenn man glaubt, einen Makel auf sich geladen zu haben, der einem ein Mal in die Stirn brennt, so dass ab jetzt die ganze Welt weiß, was Sie angestellt haben.

Trotz allem flackerte ein Rest von Kampfgeist in mir auf. „Ich hab’ nicht abgeschrieben“, murmelte ich. „Ich hab’ doch nur die Qualle genommen und eine Geschichte drumrum geschrieben.“

Die Lehrerin schüttelte traurig den Kopf. „Du willst mir nicht wirklich weis machen, dass du Claudias coole Eltern, ihren nervigen kleinen Bruder und die durchsichtig blau schimmernde Qualle, die die Form eines schwebenden Riesenpilzes hat, erfunden hast!“ Ich konnte nur nicken.

Da ich so uneinsichtig war, bekam ich für meinen Aufsatz eine Sechs Minus. Ich fand das damals und auch heute noch äußerst unfair, war aber als Schülerin nicht in der richtigen Position, um dagegen vorzugehen. Schließlich gab es zu jener Zeit auch noch kein Facebook, wo ich eine Verteidigungsseite einrichten und zehntausende von „Gefällt mir“ Klicks hätte sammeln können, so wie dies ein uns allen bekannter Ex-Minister tat. Ich tröstete mich daher mit dem Gedanken, dass man von Lehrern, die Kreuze in ihren Klassenzimmern hängen hatten, um Vampire fern zu halten, nicht zu viel Toleranz erwarten dürfe.

Sie finden das übertrieben mit den Vampiren? Sie meinen, es gibt keine Vampire. Na, da könnte ich Ihnen eine Geschichte erzählen. Einer unserer Lehrer war nämlich Vampir. Sie glauben gar nicht, was der alles angestellt hat, um das Kreuz in seinem Klassenzimmer los zu werden. Schade, dass Sie keine Zeit mehr haben, aber vielleicht treffen wir uns ja wieder mal. Es war so nett mit Ihnen zu plaudern.